Mein Hamburg
Pius Regli
Vom Schweizer Kellner zur Sylter Legende
Ein Mensch, der Pius Regli heißt, kann ja eigentlich kein Sylter sein. Das merkt man ja schon an deinem Namen. Du bist seit Jahrzehnten auf der Insel …
PIUS REGLI … seit 1978. Am 4. August 1978 bin ich auf Sylt gelandet, mein Geburtstag, daher weiß ich das genau.
Du hast Bilder von Sylt gesehen und dann warst du beeindruckt?
PIUS REGLI Nein. Mein erster Sex-Film, den ich gesehen habe, der hieß „Heißer Sand auf Sylt“. Das hat mich zu der Zeit unglaublich beeindruckt. Da hatte ich noch nie etwas von gehört.
Man konnte sich in der Schweiz wohl auch nicht vorstellen, dass Männer und Frauen nackt ins Meer springen …
PIUS REGLI Genau das war der Punkt bei uns in der Badeanstalt, da hat man sich noch irgendwo in der Kabine umgezogen. Nein, also das war natürlich interessant. Ich war wahnsinnig enttäuscht und ich war auch richtig böse auf mich selbst. Ich hatte einen guten Job, hab den fliegen lassen, weil ich eben nach Sylt gekommen bin. Kennst du Rolf Seiche noch?
Ja, der verstorbene Kult-Wirt aus dem Gogärtchen.
PIUS REGLI Rolf Seiche war bei uns in Zermatt im Hotel Gast. Ich habe in Zermatt im Hotel Post gearbeitet. Das war wahrscheinlich zu der Zeit das verrückteste Hotel der Welt. Rolf war bei uns Gast und hat mich gefragt, ob ich nicht nach Sylt kommen möchte. Ich hab dann gesagt, nee, leider, nein, denn ich wollte nach Ibiza. Ich war im Sommer vorher schon auf Ibiza. Dann habe ich ihn gefragt, wo sind Sie denn? Er sagt, er hätte ein sehr, sehr schönes Lokal auf Sylt. Da hat es bei mir Klick gemacht und ich habe das irgendwo abgespeichert. Ich habe den Film gesehen, das muss so um 1970 rum gewesen sein, plus minus. Der Film ist von 1968. Und ich habe alle kennengelernt, die mit diesem Film etwas zu tun hatten, außer Horst Tappert.
War das ein „Schulmädchen-Report“ oder „Sylt-Report“ in den Dünen – die Erotik-Klassiker der 1970er Jahre?
PIUS REGLI Nein, nein, das war ein richtiger Spielfilm.
Er muss dich sehr beeindruckt haben.
PIUS REGLI Naja, die sind hinterher alle gekommen. Ich war ja früher ab und an in einer Talkshow. Margarete Schreinemaker war eine gute Freundin von mir. Da war ich bei „Schreinemakers live“. Das war ja damals die Talkshow überhaupt. Ich hatte seinerzeit den Skiclub Kampen gegründet, weil ich eben mal in Talkshows gehen wollte. Das war natürlich hahaha und hohoho, aber deswegen war ich überall. Ich war in allen Talkshows, die es damals in Deutschland gab. Dann habe ich halt von diesem Film erzählt, und das haben natürlich alle mitgekriegt. Ich war wahrscheinlich der einzige, der von diesem Film erzählt hat. Es war wohl auch der schlechteste Film, der jemals gedreht wurde. Alle haben sich brutal geschämt. Ich habe jetzt die Originalfilmrollen in Westerland, die braucht natürlich keiner, die Scheiße will keiner mehr ansehen. Aber so kam das halt, dieser Film hat einfach mein Leben extrem beeinflusst. Egal ob gut oder schlecht oder was auch immer, wenn ich den nicht gesehen hätte, würden wir hier mit Sicherheit nicht sitzen.
Du bist jetzt, wenn ich richtig gerechnet habe, 46 Jahre Sylter. Wie lange braucht man, um sich den Schweizer Dialekt abzugewöhnen, denn den hört man ja nicht mehr so richtig raus?
PIUS REGLI Ja, ich habe mich von Anfang an bemüht, das nicht zu tun. Also, es gibt zwei Möglichkeiten, gerade wenn du in der Gastronomie arbeitest. Du kannst dir natürlich irgendwie ein Image schaffen. Als Schweizer ist es, glaube ich, ganz gut. Das wollte ich aber nicht. Ich habe mich schon in der Schule, gerade in Sachen Fremdsprachen, immer geärgert, dass die Lehrer bei Französisch, Englisch immer mit der Aussprache hinterher waren. Und in Deutsch hat es in der Aussprache keine Sau interessiert. Das war scheißegal! Die Schweizer sprechen ja hochdeutsch im Parlament. Ja, da musst du mal zuhören. Das ist zum Totlachen! Das ist Realsatire, wenn du da reinhörst!
Wenn dich auf Sylt Schweizer besuchen, verfällst du dann in einen Schweizer Dialekt?
PIUS REGLI Na klar, natürlich …
… da guckt wohl jeder Schweizer Urlauber auf der Insel mal bei dir vorbei?
PIUS REGLI Ja, immer mehr. Sind ja mittlerweile die einzigen Ausländer, die wir haben. Früher hatten wir gar keine, jetzt haben wir die Schweizer.
Du hast als Kellner angefangen.
PIUS REGLI Ja, als Kellner im Village damals, das war ja das Wohnzimmer der Hamburger und hatte nur 36 Plätze. Da waren eigentlich immer die gleichen Leute, heute hat der bezahlt, morgen der andere. Das war schon ganz lustig, das war Familie!
Zu der Zeit gab‘s Manne Pahl in Kampen auch schon ...
PIUS REGLI … ja, das gibt‘s seit 1948!
Und wie bist du da rangekommen?
PIUS REGLI Wie immer in meinem Leben. Das flog mir zu. Ich wollte eigentlich von Sylt weg und hatte überhaupt keine Ambitionen, mich selbstständig zu machen. Ich bin ja schon müde auf die Welt gekommen und hatte keinen Grund, da irgendwas zu tun. Aber mein Vorgänger, der ein Österreicher war, wollte von der Insel weg und was anderes machen. Er wollte in die Finanzwelt. Und weil er wusste, dass ich mit der Familie Kramer gut klarkam. Sprich: Warsteiner, das Haus gehörte früher der Warsteiner Brauerei. Damals hat vieles in den Privathäusern stattgefunden. Ich habe bei der Familie Kramer fast jeden Tag irgendwas gemacht, entweder eine Flasche Champagner aufgemacht, Kaffee und Kuchen gereicht oder Abendessen serviert. Die waren auch fünfmal in der Woche im Village. Dort wusste man, dass ich mit der Familie gut kann. Weil mein Vorgänger aussteigen wollte, hat er mich angesprochen. Möchtest du nicht Manne Pahl machen? Ich habe keine Lust mehr, ich gehe von der Insel. Und so kam es.
Heute ist Manne Pahl in den Händen von dir und deiner Tochter. Nicht jeder kennt das Restaurant. Beschreib doch mal mit wenigen Sätzen, was ist Manne Pahl?
PIUS REGLI Manne Pahl hat eine lange Tradition. Er war ein Konditor und hieß so …
… und in Kampen angesiedelt, ein wahrer Sylter?
PIUS REGLI In Kampen auf die Welt gekommen. Das Haus Pahl war sein Geburtshaus und früher eine Pension. Als er aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkam, hat er ein Café aufgemacht, das Café Pahl. Das war bekannt für seinen Kuchen. Es wurde später von der Warsteiner Brauerei gekauft und zu dem Gasthaus, wie man das heute kennt. Die haben diesen Sprung ganz gut hingekriegt, auch von der Einrichtung her. Meine Tochter hat mal was ziemlich Kluges gesagt. Sie hat auf eine ähnliche Frage der Presse geantwortet: „Wir erfüllen die Sehnsucht der Gäste nach Vertrautem“, und da ist viel Wahrheit hinter. Wir leben ja auch von der Vergangenheit. Jeder hat eine Vergangenheit und ohne Vergangenheit ist alles schwierig. Wir versuchen da so ein bisschen die alten Sachen zu pflegen, aber gleichzeitig die neuen auch nicht aus den Augen zu lassen.
Es ist augenfällig, dass auf der sogenannten Promi-Insel viele Persönlichkeiten auch bei dir im Manne Pahl zu finden sind.
PIUS REGLI Ja, aber das ist natürlich in erster Linie der Insel Sylt geschuldet …
… und die dann auch gern ins Manne Pahl gehen …
PIUS REGLI Klar, aber jetzt nicht ausschließlich. Das wäre ein bisschen vermessen.
Es gibt Persönlichkeiten, die nicht gerade überall zu finden sind, wie Jürgen Klopp zum Beispiel.
PIUS REGLI Ja gut, aber auch der kommt nicht ausschließlich zu mir. Er kommt sicher sehr gerne zu mir, sag ich jetzt einfach mal. Und ich bin auch sehr, sehr gerne bei ihm. Ich bin relativ oft in Liverpool, aber das ist das Schöne an diesem Job. Deswegen bin ich immer so sauer, wenn diese Jobs in der Gastronomie so niedergemacht werden: ungünstige Arbeitszeiten, schlecht bezahlt und so weiter. Wenn du Lust auf Menschen hast, gibt‘s nichts Vergleichbares.
Um eine Gastronomie wie Manne Pahl zu führen, braucht man auch Personal. Du hast es eben angesprochen, du hast sicherlich Leute in der Küche. Du selbst sagst, du kannst da nicht kochen …
PIUS REGLI … stimmt …
… du brauchst Servicekräfte et cetera. Nun wohnen die Leute nicht auf der Insel, das ist fast unmöglich. Die meisten leben auf dem Festland, weil man sich Sylt nicht mehr leisten kann.
PIUS REGLI Das ist nur bedingt richtig. Das ist, als wenn du sagst, du kannst in Blankenese kein Restaurant aufmachen, weil da keiner wohnen kann, sich das nicht leisten kann.
Aber Blankenese ist keine Insel.
PIUS REGLI Ich bin ja auch mal angekommen und hatte 300 Franken in der Tasche. Inzwischen kann ich mir auch eine Wohnung leisten. Also so ist das ja nicht. Du kannst Gastronomie auf jeden Fall nur in den Jobs machen, die in der Darstellung wichtig sind, Service und dieses ganze Zeug, wenn die Menschen auf Sylt wohnen. Du kannst nicht mit Serviceleuten arbeiten, die ständig auf die Uhr gucken und sagen, mein Zug fährt um zwölf Uhr oder um halb elf oder so. Das geht nicht. Ich habe Küchen-Hilfen, die kommen inzwischen fast alle aus Afrika und wohnen fast ausschließlich auf dem Festland. Das ist richtig. Nur, die haben natürlich feste Zeiten. Die kommen morgens um zehn und gehen dann abends, je nachdem, was für eine Schicht sie haben. Das ist alles machbar.
Ich habe von einer Frau auf Sylt gelesen, die seit 2021 eine Wohnung sucht und nun endlich gefunden hat. Sie wohnt auf 80 Quadratmeter für 2000 € kalt. Das muss man erst mal verdienen!
PIUS REGLI Also muss ich ganz ehrlich sagen, so eine Geschichte kenne ich nicht. Ich bin aus meiner Wohnung rausgegangen. In Keitum habe ich ein halbes Haus gehabt. Das war damals ein Zufall, es war wirklich ein Glücksfall, dass ich das gekriegt habe. Ich will jetzt nichts schönreden, selbstverständlich gibt‘s ein Wohnproblem. Und überall, wo Tourismus wirklich läuft, haben wir das Problem. Es ist einfach zu viel geworden. Das ist einfach genau der Punkt.
Also, Sylt hat 15.000 Einwohner, 9000 leben in Westerland bei 4,1 Millionen Übernachtungen pro Jahr. Sylt hat aber auch einen großen „Leerstand“ mit Ferienwohnungen. Denen geht es jetzt durch die Behörden an den Kragen.
PIUS REGLI 4,1 Millionen Übernachtungen musst du natürlich auch runterbrechen. Ich weiß nicht, wie lang die Aufenthaltsdauer ist, wenn du zehn Tage nimmst, dann sind es noch 400.000 …
… aber es bleiben 4,1 Millionen Übernachtungen. Das Image von Sylt ist ein spezielles. Es gab die legendären Zeiten mit Gunter Sachs und anderen Prominenten jener Tage. Das waren so was wie die Goldenen Zeiten der Insel. Sylt ist heute fast beliebig. Die Zeiten ändern sich. Auf einmal gab es soziale Krisen. Fridays for Future tritt auf, Punks machen hier Ferienlager, hirnentkernte Jugendliche grölen Nazitexte und die „Reichen“ sind auch nicht immer reich oder tun nur so. Die Nordrhein-Westfalen, Sylts meiste Urlauber, heißen bei euren Taxifahrern nur noch „Nordrhein-Vandalen“. Was ist los auf Sylt?
PIUS REGLI Die Menschen, die das machen, ob das nun die Letzte Generation ist oder die Punks oder was auch immer, die wissen ja inzwischen auch, wie es geht. Das hat einzig und alleine mit der medialen Aufmerksamkeit zu tun. Das ist völlig klar. Die können morgen in Schnatebüll demonstrieren, das wird keine Sau interessieren. Die waren letztes Jahr bei mir, aber ordentlich. Die haben eine Demo angemeldet, zwei hatten sie angemeldet. Die erste war Treffen in Westerland, Bahnhof, dann zu Fuß nach Kampen, mit Wagen, mit Mikro und dieses ganze Zeug. Da haben die wirklich Wasserwerfer vom Festland geholt. Ich glaube, es waren um die 350 Polizisten vom Festland hier, in voller Montur. Und das Ende vom Lied, ich habe mich mit einem Demonstranten richtig angelegt, der hat bei mir in den Garten gepinkelt, vor den Gästen. Das fand ich dann nicht so lustig. Das Problem ist, die haben so viele Leute, die alles filmen. Und die warten nur darauf, dass du dem irgendwie an den Kragen gehst. So, das ist alles. Es ist lächerlich! Ich meine, Demonstrationsrecht schön und gut. Aber ich glaube, in Deutschland müsste wirklich drüber nachgedacht werden, ob das alles noch so zeitgemäß ist.
Was hast du für ein Verhältnis zu den wahren Insulanern?
PIUS REGLI Ich habe insgesamt zu Menschen ein gutes Verhältnis. Und ich glaube, in dem Bereich hat mir der Sport sehr geholfen. Ich bin ein alter Fußballer und gleich im ersten Jahr hier in einen Fußballverein gegangen, Tinnum 66. Aber nach einer gewissen Zeit habe ich schon gemerkt, dass die sich gewundert haben, dass einer aus Kampen bei denen mitkickt. Früher waren die Gräben viel tiefer zwischen Tinnum und Westerland, zwischen Kampen und dem Rest der Insel oder was auch immer, also das war schon sehr verbreitet.
Wie ist dein Kontakt zu den Kollegen? Tauscht ihr euch aus?
PIUS REGLI Ja, also, man kennt sich natürlich. Das war früher ein bisschen intensiver. Früher wusste man zum Beispiel, welcher Kellner in welchem Lokal arbeitet, vom Chef mal ganz abgesehen. Das wusste man sowieso, das weiß man heute auch noch. Aber man kennt sich nicht mehr untereinander, weil es einfach zu viel geworden sind. Das ist zu groß, zu viel. Früher haben wir uns jeden Tag im Rauchfang getroffen.
Was ist mit deinem Weinlokal Pius? Warum musstest du das schließen?
PIUS REGLI Das war eine reine Nachbarschaftssache. Wir hatten ganz strenge Vorgaben. Wir haben die Terrasse um 22 Uhr geschlossen. Das musst du dir mal vorstellen, heutzutage, im Sommer, so ein Tag wie heute, 28 Grad, und ich muss um 22 Uhr die Terrasse schließen. Der Typ, der das macht, das ist so ein Gutmensch, hat halt relativ viel Geld, und der will seine Ruhe haben. Dem gehört ja alles außenrum.
Wagst du eine Prognose, sagen wir mal, Sylt in 30 Jahren?
PIUS REGLI Normalerweise mache ich das ganz gern. In diesem Falle bin ich eindeutig überfordert. Ich bin ein Faktenmensch und wenn die Fakten einmal durchgerattert sind, dann bleibe ich eher Optimist. Auch wenn die Fakten den Optimismus nicht so richtig zulassen. Aber ich bin der letzte, der die ganzen Nasen noch kennt, egal wie sie alle hießen. Aber es gibt ja auch andere, die früher eine große Rolle gespielt haben, die kennt heute keine Sau mehr. Weil es eben anders war. Ich will nicht sagen besser oder schlechter, aber es war einfach deutlich anders.
Es wird immer die geben, die Sylt lieben oder hassen oder denen die Insel egal ist …
PIUS REGLI Ich glaube, man sollte der Insel auf jeden Fall eine zweite Chance geben.
Lieber Pius, danke für das Gespräch.
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