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Michel Ruge
Die Oberkorrekten waren unsere besten Kunden
Aber genau hier, auf St. Pauli, haben sich die von ihnen auserkorenen Opfer schon vor Jahrzehnten wohlgefühlt und jeder konnte das ausleben, wofür er in der bürgerlichen Welt ausgestoßen wurde. Weil er nicht korrekt war.
Und jetzt kommen die Korrekten. Mit ihrer korrekten Sprache.
Sie nennen sie „politisch korrekt“. Aber auf St. Pauli mochten wir sie noch nie!
Weder die Politiker noch die Korrekten.
Und deswegen schreibe ich über sie.
Denn ich bin ein St. Paulianer.
Heute habe ich meiner Tochter erklärt, die auf der Suche nach meinen Brustwarzen über meinen Oberbauch robbte, dass ich ihr keine Milch geben kann. Ganz einfach, weil ich nicht ihre Mutter bin. Ob sie mich jetzt für einen heteronormativen Faschisten hält? Da sie erst elf Tage alt ist, kann ich sie nicht danach fragen. Aber ich frage mich, aus welcher mächtigen Quelle der Political Correctness-Wahn der letzten Jahre gespeist wird, so absurd wirkt die Verformung der Sprache auf mich. Und so erschreckend der geifernde Eifer, mit dem Mitmenschen an mir herumerziehen, mich belehren, mich bevormunden wollen und die Semantik über die Bedeutung stellen.
Bleiben wir mal bei der Muttermilch – aus Rücksicht auf Transsexuelle sollen englische Hebammen künftig geschlechtsneutrale Begriffe verwenden und Menschen- statt Muttermilch sagen. Das entscheidende Wort hierbei ist Rücksicht. Ich bin Schriftsteller. Obwohl ich aus St. Pauli komme. Ich mag starke Worte. Muttermilch ist eines. Und nun soll es abgeschafft werden, aus Rücksicht auf 0,0025 bis 0,01 Prozent der Bevölkerung, die transsexuell ist. Mir ist vollkommen gleichgültig, ob jemand sich einen Schniedel rannähen oder abnehmen lässt oder ob jemand sich einer Zimmerpalme geschlechtlich näher fühlt als Frauen oder Männern. Aber dass nun meine Muttersprache – sofern diese Bezeichnung noch politisch korrekt ist – aufgrund des persönlichen Konflikts dieses nullkommanullein Prozents derart verformt wird, das akzeptiere ich nicht. Ich bedaure, wenn einige unter diesem Phänomen leiden und ziehe den Hut vor all jenen, die bereit sind, ihren persönlichen Weg zum Glück einzuschlagen, auch wenn er langwierig und schwierig ist. Aber es ist und bleibt ein sehr privates und kein gesellschaftliches Thema in dem Umfang, in dem es gerade stattfindet.
Ich bin aufgewachsen zwischen Nutten, Zuhältern, Gaunern, Junkies und Transsexuellen. Und habe in den 1970er Jahren schon Sachen gesehen, bei denen die heutigen Oberkorrekten so ihre Schwierigkeiten hätten, Toleranz zu heucheln. Und den Transvestiten von damals, mit denen ich als Kind im Café Möller auf der Reeperbahn Sonntags Sahnetorte gegessen habe, hätten sich eine Bewertung von milieufernen Besserwissern tunlichst verbeten. Trotz meiner Vergangenheit, meiner unbändigen Freiheitsliebe und meinem tiefen Bekenntnis zum Anarchismus, verspüre ich mittlerweile regelmäßig den Drang, den Klugschwätzern mit ihren First-World-Problems, die mir aus ihrer skandinavisch-minimalistisch eingerichteten Studentenwohnung heraus erklären wollen wie sehr Transsexuelle oder schwarze Frauen unter alten weißen Männern wie mir leiden, meinen kostenlosen Service für mehr Durchzug in der vorderen Zahnreihe anzubieten. Aber ich verabscheue natürlich Gewalt. Ernsthaft jetzt: Was läuft da eigentlich?
Der ewig weiße Retter
Beim Nachdenken dachte ich darüber nach, wie lange das Bild vom edlen weißen Retter eigentlich schon existiert. Ich habe als Kind gelernt, dass der Buschmann dringend auf die Hilfe des weißen Mannes angewiesen ist, um überhaupt irgendetwas auf die Reihe zu kriegen. Es ist der weiße Mann, der mit den Tieren sprechen kann, nicht der Ureinwohner. Der ist höchstens scharf auf die weiße Frau, die so begehrenswert ist, dass er völlig aus der Fassung gerät – bemerkenswert abscheulich in King Kong dargestellt: Eine Geschichte, die wie keine zweite das Motiv vom Primitiven aufgreift, das das Elitäre begehrt. Vom wilden Animus, der gezähmt, ja sogar getötet werden muss. Freudianisch interpretiert zeigt sich hier die geballte Abwehr der eigenen Lust, und genau das ist es, was mich an der Gendersprache und an der Moraltrompeterei insgesamt abstößt – die Lustverweigerung. Also genau das Gegenteil von dem, was wir auf St. Pauli gelebt haben.
Jetzt hat der weiße Mann, später dann auch mit Hilfe der emanzipierten weißen Frau, die Welt fertig gerettet. Das heißt, alle ökonomisch strategisch wichtigen Quadranten sind derart besetzt, dass das unablässige Absaugen von Ressourcen aller Art zum Erhalt unseres Wohlstandes problemlos weiterläuft. Jetzt allerdings nachhaltiger. Will sagen: Den weißen Mann und die weiße Frau quält ein aus jahrhundertelanger brutaler Expansionspolitik resultierendes kollektives Schuldgefühl. Es kann nicht aufgelöst werden, weil große Teile der Weltbevölkerung weiterhin ausgebeutet werden müssen, um den eigenen Standard halten zu können. Lediglich verpackt in andere Narrative, mit denen es sich hierzulande und in anderen westlichen Industrienationen besser leben lässt – die Arbeit in der Fabrik ermöglicht es den Kindern, eigenes Geld zu verdienen und ähnlich schwachsinnige Geschichten – muss der Konflikt also anders geklärt werden. Und zwar in der unmittelbaren Lebenswirklichkeit. Und so fordern wir nicht mehr länger eine echte Gerechtigkeit für die Kinder in den Fabrik- oder Minenhöllen, sondern für alle Menschen, die hierzulande scheinbar unvorstellbarer Ungerechtigkeit ausgesetzt sind. Ob wir irgendeine Verbindung zu den auserkorenen Opfern haben, spielt dabei eine untergeordnete Rolle, denn es geht weniger um die Nöte dieser Menschen, als um ihre gesellschaftliche Funktion. Die Leugnung von Polaritäten, das Gendern ohne Sinn und Verstand, die ungefragten Belehrungen von Mitmenschen, das Denunziantentum, die Missgunst und der Neid, die Abwertung der Hedonisten, die Verehrung der Ratio. All das resultiert aus einem pervertierten Helferkomplex.
Sehnsucht nach Sinn
Die tiefe Sehnsucht der Lebensfernen – ich habe sie in meinen Gedanken Bildungsfaschisten getauft – nach existenziellen Problemen, um endlich etwas Profundes zu spüren, führt dazu, dass sie das gefühlte Vakuum mit möglichst vielen Problemen füllen wollen. Vorzugsweise mit den Problemen anderer, deren emotionale Sorgen und Nöte man sich einverleibt. Und wer diese Sorgen und Nöte nicht in gleicher Dringlichkeit sofort anerkennt, der ist ein alter weißer Mann wie ich. Oder ein Reaktionär oder auf Grund von zu viel Fleischkonsum überaggressiv oder einfach nur zu doof. Der Druck, den die sprachliche Diktatur mittlerweile auf die Gesellschaft ausübt und der in keinem Verhältnis zur Anzahl der vermeintlich Betroffenen steht, geht soweit, dass erwachsene Menschen mit solidem Bildungshintergrund und profunder Lebenserfahrung sich schämen, wenn sie von einem dieser Klugscheißer darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie das *Innen vergessen haben. Wie eben einst jene weiße Herrenrasse bringen sie uns endlich Manieren bei und bemerken nicht, dass sie beginnen, sich in einem dogmatischen Labyrinth zu verirren. Denn als ich weiter so nachgedacht habe, habe ich mich gefragt, warum diese Political-Correctness-Debatte so gnadenlos geführt wird? Warum zum Beispiel wurde in England eine Studie zu Detransition abgelehnt mit der Begründung, sie sei nicht politisch korrekt? Warum soll nicht darüber geforscht werden, warum Menschen sich nach einer Geschlechtsanpassung ihr ursprüngliches Geschlecht zurückwünschen? Möglicherweise, weil das Phänomen Transsexualität einen gewissen Grad der wirtschaftlichen Professionalisierung erreicht hat. Was auch immer der Grund oder wahrscheinlich die Gründe sind – um die Sorgen und Nöte der Menschen, die wir hierzulande als Opfer markieren, um unsere Suche nach dem Sinn des Lebens abzukürzen, geht es ganz sicher nicht. Einen derart ausgeprägten Helferkomplex, wie ihn die Political Correctness-Fraktion auslebt, besitzen Menschen, die das Leid der Anderen brauchen, um sich zu spüren und ihrem Dasein Sinn zu verleihen. Deshalb empfinde ich ihren Missionierungseifer als heuchlerisch, unangenehm und falsch. Als Tyrannei.
Ich will ein Arschloch sein
Hier mal der grundsätzliche Hinweis, dass ich das *Innen nie vergesse. Ich verwende es schlicht nicht. Ich mag es nicht. Es verformt die Sprache, stört Duktus, Rhythmus, Klang und Fluss. Deshalb mögen mich manche als Arschloch betrachten. Ich aber möchte die Wahl haben, ein Arschloch zu sein. Oder ein Hedonist, ein Individualist oder was auch immer. Ich liebe die Vielfalt, die bunten Vögel, die Grenzgänger. Schließlich fordern die Oberkorrekten doch ständig Diversität. Wobei jetzt langsam jedem klar werden müsste, dass das Ergebnis dieser radikalen Political Correctness eben genau gerade nicht Diversität, sondern Gleichmacherei ist. Wenn es künftig keine Geschlechter mehr gibt, wenn das Herr, Frau, Mutter, Vater wegfällt, was bleibt dann am Ende? Erzeuger und Produkt? Geschlechtsneutrale Biomasse? Und wenn es angeblich kein biologisches Geschlecht gibt, warum dann überhaupt der dringende Wunsch, ein anderes als das eigene Geschlecht zu besitzen? Zeigt die Natur nicht auch in der Umkehr des biologisch Vorgesehenen und im Rahmen der Vervielfältigung der eigenen Spezies ihre ganze Kraft? Kann sie nicht einfach dort wirken, wo sie eben wirkt? Ohne, dass wir dieses Phänomen derart instrumentalisieren? Die Gendersprache, das Überkorrekte und das ständige Moralisieren lassen vor allem eines missen: das Liebevolle, Zärtliche, das Neckende, Spielerische und den Humor. Sprache, die nicht mehr verletzen kann, ist wie ein stumpfes Werkzeug. Deshalb frage ich mich, ob es sie in Zukunft noch geben wird, die Texte mit den scharfen Kanten, die Pamphlete, die Manifeste, die Hasspredigten, die Friedensansprachen, die Liebeserklärungen – eben alles, was zum Leben dazu gehört und eine entsprechende kraftvolle Sprache benötigt. Man spricht schließlich nicht umsonst vom Kraftausdruck. Arschloch ist so einer. Ich mag das. Und auf St. Pauli hatten wir immer schon eine ganze Palette davon. Denn nur wo die großen Gefühle sind, ist das Leben.
Kommentare
Kommentar von Juliane Uhl |
Ich will auch ein Arschloch sein. Aber ich traue mich nicht. Noch nicht.
Kommentar von Wolfgang |
...ein hoffentlich noch frühzeitiger Wachrüttler. Früher war nicht alles besser, die wunderschöne deutsche Sprache aber doch!
Kommentar von Radlinger Claudia |
Wirklich toller Artikel der mir aus der Seele spricht. Ich ziehe den Hut vor dem Verfasser. 👏🏻👏🏻👏🏻👏🏻
Kommentar von Peer Hartog |
Eloquent und kurzweilig auf den Punkt gebracht, Chapeau!
Kommentar von egon |
Ich stimme dir zu. Mir ist es auch egal welches Geschlecht jemand hat. Nur der Charakter zählt. Erst wenn wir nicht mehr überlegen müssen wie wir jemanden anreden,erst dann haben wir eine Gleichberechtigung.
Kommentar von Gerd Buhr |
Interessante Reflexion, hab's genossen, schwul, Jahrgang 53.
Hochachtung, dem leichtfertigen Mainstream mal eine Brille aufzusetzen.
Werde Deine Gedanken verfolgen.
Bist n geiler Typ!!!
Kommentar von Krieg Axel |
Wundervoll, ich fühle mich gerade, als hätte jemand an meiner Hirnschale genuckelt und versucht dort einzubrechen...
Kommentar von Kelly |
Es ist schon krass, dass der Vater von Michel Zuhälter war, und wo und wie er aufgewachsen ist
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